… oder was man vom Pilgern auch fürs Leben lernen kann.
Oktober / Spanien / Via Regia / Camino Frances
Lief ich in Frankreich noch alleine, sehr achtsam und in Tagesetappen mit verhältnismäßig moderaten Geschwindigkeiten und Distanzen – änderte sich das in Spanien spürbar. Auch wenn es der unklaren Corona-Situation geschuldet war, so fühlte es gleichzeitig an, wie ein Schritt zurück.
Warum lief ich schneller? Zum einen, weil ich nun in einer Gruppe unterwegs war, zum anderen, da sich auch die Größe der Tagesetappen spürbar vergrößerten. Aufgrund der sich zuspitzenden Corona-Situation, konnte keiner wirklich wissen was kommt, ob und wie es weitergeht.
Aber jeder wollte Santiago de Compostela möglichst rechtzeitig, noch vor einem evtl. Lockdown, erreichen. So legte unsere kleine Gruppe, an vielen Tagen, Etappen von 40 km oder mehr zurück. Auch liefen wir früh und recht zügig los.
Sheng
Auf irgendeiner dieser Tagesetappen begegnete ich Sheng, einem chinesischen Pilger. Irgendwann am Vormittag überholten wir ihn in unserer Geschwindigkeit, unserer Taktung und erreichten am Nachmittag oder frühen Abend die Herberge.
Wenig später, vielleicht eine Stunde nur, traf auch Sheng in der Herberge ein. Entspannt, mit einem Lächeln auf den Lippen. Erst dachten wir, er hätte eine Abkürzung genommen oder sei per Anhalter gefahren.
Die nächsten Tage und Etappen jedoch, sollte uns Sheng immer wieder aufs Neue überraschen. Jeden Morgen überholten wir ihn und ganz sicher wurde er auch von jedem anderen Pilger überholt. Er lief so langsam, dass man sich anfangs Sorgen machte.
Jeden Abend das gleiche Spiel. Wir trafen am Nachmittag, frühen Abend in der Herberge ein, eine Stunde oder zwei später war auch Sheng wieder da. Zwar nicht an jedem Tag in der gleichen Herberge, aber spätestens an einem der darauffolgenden Tag sahen wir ihn wieder.
Der Unterschied zwischen uns war, dass wir zwar schneller liefen und früher ankamen – dafür aber geschafft waren. Sheng lief die selbe Distanz langsam und gleichmäßig – und er war entspannt. Der Unterschied der Zielerreichung lag vielleicht bei einer bis zwei Stunden.
Slow down
Irgendwann wollte ich es genau wissen. Und so passte ich mich, mit seiner Erlaubnis, seiner Geschwindigkeit an. Was einfach klingt, war anfangs eine echte Herausforderung. Ständig musste ich mich in meinem Vorwärtsdrang einbremsen. Ich war ja wieder auf Geschwindigkeit programmiert. Und so liefen wir versetzt zwar, aber im gleichen Rhythmus, eine Tagesetappe gemeinsam.
Was für eine Erfahrung! Gleichzeitig fühlte ich mich an den Weg durch Frankreich erinnert. Wie entspannt eine lange Tagesetappe auch zurückgelegt werden kann. Und dabei hat man nochmals mehr Zeit für die kleinen Begegnungen und Beobachtungen am Wegesrand.
Die Begegnung mit Sheng und das sich einlassen auf eine andere, wieder bewusstere und achtsamere Art und Weise, den Weg zu begehen, war für mich eine nachhaltig bleibende Erkenntnis des gesamten Weges. Auch, da ich nun den direkten Vergleich hatte zwischen hoher Geschwindigkeit und bewusster Gangart.
Der Weg ist ein Marathon und kein Sprint. Slow down. Walk don´t reach. Lass die anderen loslaufen, sich verausgaben. Es bringt nichts, sich zu stressen. Laufe langsam und bewusst und erreiche trotzdem Dein Ziel. Jeder auf seine Art.
Es geht nicht um Geschwindigkeit oder um höher, schneller, weiter. Es geht um das bewusste und achtsame Beschreiten eines Weges, welchen Weges auch immer. Der Preis für die hohe Geschwindigkeit, den hohen Kraftaufwand – steht in keinem Verhältnis zum Ergebnis.
Sheng erreichte Satiago de Compostella nur einen Tag nach uns.
Danke Sheng!